Der Faktor Zeit: Das große Geheimnis hinter gutem Fleisch
Wie entsteht eigentlich „richtig gutes Fleisch?“ An dieser Frage arbeiten sich Fleischexperten und Erzeuger seit Jahren ab. Im Diskurs fallen meist ethisch geprägte Begriffe wie artgerechte Haltung, Fütterung, Auslauf, Tierwohl oder stressfreie Schlachtung. Auf der anderen Seite die kulinarischen Dimensionen Reifung, Marmorierung, Fettabdeckung und Feinfaserigkeit. Eine endgültige Antwort auf diese Frage gab es bislang nicht – zu subjektiv ist der Geschmack und das moralische Gewissen jedes Einzelnen. Es gibt jedoch einen Faktor, der in einem Wort zusammenfasst, was all den oben genannten Begriffen zu Grunde liegt: Gutes Fleisch braucht Zeit.
„Wenn etwas so lange dauert, dass es unökonomisch erscheint, dann wird es für mich interessant,“ sagt der Wiener Essigproduzent Erwig Gegenbauer. Seine Aussage ist stark überspitzt, doch sie regt zum Nachdenken an. Jeder Landwirt, jeder Züchter ist auch immer Geschäftsmann – er/sie muss den Betrieb am Leben halten. Nur wenigen bleibt das Privileg, sich die Freiheit erarbeitet zu haben, mit dem Faktor Zeit zu experimentieren. Leider – denn das lohnt sicht.
Gutes Fleisch muss lange wachsen
Lange Zeit galt ein hohes Alter bei Tieren als kulinarisches K.O.-Kriterium. Beim Lamm hält sich dieses Bild bis heute, obwohl betagte Hammel in Irland als Delikatesse angeboten werden. Alte Kühe hingegen haben nun auch die ersten Deutschen Feinschmecker für sich entdeckt. Dabei müssen es nicht gleich 10 Jahre oder mehr sein, die ein Tier auf dem Buckel hat – es reicht schon, die durchschnittliche Lebensdauer eines Tiers leicht zu erhöhen, indem man zum Beispiel das Wachstum wieder auf ein natürliches Maß verlangsamt. Die meisten Rinder, die in Deutschland geschlachtet werden, erreichen lediglich ein Alter von 12-24 Monaten. Sie gehen als „Jungbullen“ über die Theke. „Kulinarisch nicht besonders spannend,“ sagt Hans-Georg Pestka im Fleischglück-Podcast, die meisten Fleischexperten teilen diese Meinung. Wenn Tiere in möglichst kurzer Zeit zu möglichst hoher Fleischausbeute hochgezogen werden, entsteht wenig Geschmack.
Ein langsames, unforciertes Wachstum ist die natürlichste Art des Wachstums. Sie führt in der Regel zu feinfaserigen Muskeln, was sich in der Dimension „Textur“ niederschlägt und als zart wahrgenommen wird. Gleichzeitig entsteht beim langsamen Wachstum eines Tiers eine feinere Marmorierung. Der Fettanteil im Fleisch ist von der Rasse abhängig, doch das vorhandene Fett wird bei langsamem Wachstum in feineren Äderchen eingelagert als bei kurzer intensiver Mast, wo grobe Fett-Ballungen entstehen. Dirk Ludwig, der sich viel mit dem Thema Marmorierung beschäftigt, sagt: Je feiner die Fettäderchen, desto zarter der Biss.“ Marmorierung alleine ist also kein Qualitätskriterium. Erst in Verbindung mit Zeit, wird sie zum Genuss-Faktor.
Zeit-Investitionen für die Futterproduktion
Mit der Größe der Strukturen eines landwirtschaftlichen Betriebs, wächst auch der Bedarf an Futtermitteln für die Tiere. Damit steigt die Notwendigkeit, Futtermittel zukaufen zu müssen. Mit guten, vertrauensvollen Lieferanten kann auch das einwandfrei gelingen, doch Zukauf bedeutet fast immer einen Verlust an Transparenz und Nachvollziehbarkeit. Doch es gibt immer mehr Erzeuger, die sich von der Futtermittelindustrie unabhängig machen wollen:
Ingmar Jaschok, der auf dem Bornwiesenhof im Hunsrück eine Hühnerzucht aufbaut, füttert sein Geflügel mittlerweile mit einem selbst zusammengestellten Mix aus Resten des Hofkreislaufs. Zudem züchtet er Algen, um den Proteingehalt des Futters zu erhöhen. Das kostet wahnsinnig viel Zeit und Hingabe, doch durch tägliches Testen und Anpassen erkennt er genau, welche Auswirkungen welches Futter auf seine Tiere hat. So viel Perfektionsstreben erfordert Zeit, bringt aber herausragende Produkte hervor.
Einen ähnlichen Ansatz verfolgt Katja Dallmann mit Elvira’s Bauernladen. „Wir wollen das komplette Futter für unsere Tiere selbst anbauen. Somit sind wir von der Futtermittelindustrie unabhängig und wir wissen, dass wir unseren Tieren nur das Beste füttern,“ schreibt sie auf Facebook und zeigt dort die erste Soja-Ernte. Ungedüngt und ungespritzt ist ihr Futter, das kann sie nur wissen, wenn sie selbst die Zeit in den Anbau investiert.
Du bist, was du isst, gilt nicht nur für den Menschen. Die Qualität des Futters bestimmt auch wesentlich die Qualität des Fleischs, das ist nur logisch. Wenn Zeit und Hirnschmalz in die Futtermittelbeschaffung fließt, kann daraus richtig gutes Fleisch werden.
Zeit bei der Schlachtung
Der Faktor Zeit zieht sich durch alle Bereiche der Wertschöpfungskette und macht auch bei der Schlachtung nicht Halt. Dort, wo Tiere reine Produktionsmittel sind, zählt jede Sekunde auf dem Transportweg vom Stall zum Schlachter, denn Zeit ist Geld. Dass Tiere dabei Unmengen Stresshormone freisetzen, wird billigend in Kauf genommen. Gutes Fleisch entsteht, wenn vorher noch nicht feststeht, in welcher Zeitspanne die Schlachtung von Statten gehen muss. Wenn der Erzeuger mit etwas Empathie die Befindlichkeit und den Charakter seiner Tiere berücksichtigt und ihnen den am wenigsten unangenehmen Weg der Schlachtung ermöglicht. Das lässt keine Akkord-Taktung zu, führt aber genau deshalb zum bestmöglichen Produkt. Was dafür nötig ist? Flexibilität und Zeit.
Zeit bei der Reifung
Der möglichst schonend herbeigeführte Tod des Tiers markiert das Ende der Wertschöpfung am lebendigen Tier. Dieser erste Prozess manifestiert die Basis für alle weiteren Veredelungsschritte, die wiederum maßgeblich vom Faktor Zeit beeinflusst werden. Das (optimalerweise) trockene Reifen des Fleisches ist die konsequente Veredelungsform. Eiweißspaltende Enzyme verändern in den ersten zwei Wochen die Struktur der Myofibrillen (die kleinste Einheit der Muskelzelle) und lockern die Muskelstruktur auf – bis zu dem Punkt, an dem der Verbraucher das Fleisch als zart und “kaubar” wahrnimmt. Ab Woche vier entstehen mundfüllende Aromen, je nach Reife-Umgebung. Dann setzt der ganz große Genuss ein. Jeder Fleischkenner weiß, welche Qualitätsunterschiede zwischen einem zwei und sechs Wochen greiften Rinderrücken liegen. Damit einher gehen Lagerzeit und Lagerkosten sowie Gewichtsverlust durch Trocknung und Abschnitte. Maßnahmen, die ein richtig gutes Grundprodukt in ein geniales Endprodukt verwandeln.
Gebraucht: Mehr Verständnis für Preise
Zeit zu investieren, bedeutet immer, nicht den einfachsten und günstigsten Weg zu gehen. Dieser Umweg kommt allerdings den Tieren zu Gute. Und nur so kann richtig gutes Fleisch entstehen. Solche Produkte tragen ein Preisschild, das sich vielen Verbrauchern nicht erschließt. Wenn ein Steak mehr als 15 Euro kostet, gilt das schnell als dekadent und luxuriös. Das Verständnis für die Wertschöpfungskette von gutem und weniger gutem Fleisch fehlt in weiten Kreisen der Bevölkerung.
Wie kann sich das ändern? Erzeuger müssen transparenter werden – und zwar nicht erst auf Nachfrage. Proaktive Kommunikation mit Einblicken in die Produktion. Gesicht zeigen. Wahre Geschichten erzählen. Betriebsführungen anbieten. Unterm Strich: Zeigen, wie viel Zeit es erfordert, ein tolles Produkt zu erzeugen. Nur so kann irgendwann eine positive Aufwärtsspirale in Gang gesetzt werden. Wenn der Produktwert erkannt wird, die Preise gerne bezahlt werden, dann wächst auch die Freiheit für den Erzeuger, vielleicht auch mal etwas mehr Zeit in seine Tiere zu investieren, als unbedingt nötig wäre.
[…] Qualitätsansprüchen arbeiten. Was gutes Fleisch und wesensgerechte Tierhaltung für uns ausmacht, kannst Du in diesem Artikel nachlesen. Für uns ist die persönliche Verbindung und das Vertrauen zu unseren Erzeugern wichtiger, als ein […]