Die Kulturgeschichte der Wurst: „Ein Quantensprung der Ernährung“
Der US-amerikanische Wissenschaftsjournalist John Brockman verschickt jedes Jahr eine Frage an die mit ihm bekannten Forscherinnen und Forscher. Aus ihren Antworten macht er ein Buch. Im Jahr 1998, in Vorbereitung auf die Jahrtausendwende, lautete die Frage: „Was ist die wichtigste Erfindung der letzten zweitausend Jahre?“. Die Antworten waren vielfältig: Der Buchdruck, das Zahlensystem, die Zahl Null, der Stahl, der Kompass, die Ammoniaksynthese, die Pille, die Dampfmaschine, und vieles mehr. Jeder Leser kann sich das ja einmal selber überlegen. Wäre ich gefragt worden, hätte ich gesagt: Schuhe. Der aufrechte Gang macht uns eigentlich langsamer als andere Lebewesen. Sein Vorteil, die Energieeffizienz über lange Strecken, wird erst durch ein solides Schuhwerk richtig deutlich. Im Prinzip können wir jedes Tier zu Tode hetzen. Mit Schuhen erst recht. Schuhe sind strategisch! Ötzi wusste das bei seinem Versuch der Alpenüberquerung. Jeder, der einmal mit nackten Füssen auf einen Legostein getreten ist, lernt es schnell!
Würste: Eine strategische Erfindung
Auch Würste sind eine strategische Erfindung. Sie sind ein Quantensprung in der menschlichen Ernährung. Auch sie ermöglichen uns Distanz. Sie lassen sich gut konservieren und sicher transportieren. Mit Wurst lassen sich Kriege gewinnen. Napoleons Armee schaffte es nur dank Wurst und Wurstkonserven bis Moskau. Das sich die Soldaten dort nicht halten konnten, lag hauptsächlich an der zusammenbrechenden Versorgung.
Sicher, schon Fleisch an sich ist wertvoll. Seine Nährstoffdichte ist, im Vergleich mit anderen Lebensmitteln, relativ hoch bei gleichzeitig mittlerer Energiedichte. Diese Nährstoffe sind auch, insbesondere im gekochten Zustand, für uns Menschen besonders gut verfügbar. Es hatte also seinen Grund, dass der sagenhafte griechische Heerführer Agamemnon selbst geschlachtet hat. Es ist schon würdevoller, ein Steak zu essen, als an einer Wurst zu zuzeln.
Ungünstige Voraussetzungen für einen Trend
Neben diesem metaphysischen Argument mangelt das Ansehen der Würste auch durch andere Themen: Optisch sind sie in ihrer Form (rund oder halbrund) eher unattraktiv. Dazu kommt, dass man von außen kaum sehen kann, was sich in ihrem Inneren befindet. Und zuletzt bestehen die meisten Würste aus Schweinefleisch; und wir Menschen haben uns daran gewöhnt, Schweine als Lebewesen kaum zu beachten.
Tatsächlich verhalten sich Würste zu Fleisch wie Schuhe zu barfuß. Würste sind ein „mehr“. Vorneweg sind Würste ein deutliches Zeichen für den Respekt eines Metzgers gegenüber dem Tier. Tatsächlich ist der Beruf des Metzgers vielleicht der einzige Beruf, der mit einem hohen negativen Hebel beginnt. Die Fleischausbeute nach der Schlachtung, der Kühlung und der Zerlegung beträgt bei Rindern etwa 60%, bei Schweinen 75% und bei Schafen ca. 50%. Das bedeutet für den Metzger einen Verlust von entsprechend 40%, 25% bzw. 50% vorneweg! Von dem Material, dass dann verkauft werden kann, ist nur der geringste Teil Edelfleisch. Der überwiegende Anteil ist Hackfleisch. So gesehen, macht es Sinn, auch das kleinste Stück Fleisch in einen Darm zu stecken. Wegwerfen wäre amoralisch.
Wurstkultur: Ausgeprägt in armen Ländern
Wegwerfen war auch nie eine Option. Nutztiere waren schon immer wertvoll. Nur die wenigsten und privilegiertesten Menschen konnten sich reines Fleisch leisten. Würste sind also ein Errungenschaft aus dem Mangel heraus. Es ist deshalb kein Wunder, dass bis heute die historisch ärmsten Länder diejenigen mit der größten Wurstkultur sind. Ich denke hier insbesondere an Europa (z.B. Deutschland, Italien, Schweiz) und Asien (insbesondere Kambodscha, Thailand oder Vietnam).
Weiter sind Würste eine ureigene Erfindung eines Metzgers. Durch die vielen Herstellungsschritte in der Zerlegung und Produktion verändert sich das Primärprodukt Fleisch derart, dass es als solches kaum noch wiederzuerkennen ist. Plötzlich wird es zu einem gestaltbaren Material, dass durch den Metzger gewürzt und geformt werden kann. Dadurch entsteht eine hohe Identifikation zwischen Mensch und Produkt. Die Wurst ist das Maß für die Exzellenz des Meisters.
Zwei Millionen Tonnen Wurst
Zuletzt ermöglichte die Erfindung des Brühwürstchens dem Fleischmaterial durch die Zugaben von Wasser Masse zurückzugeben. Das ist für die Metzger interessant, um die hohen Ausgangsverluste (siehe oben) auszugleichen. Das darf natürlich nicht überhand nehmen. Aber man könnte an dieser Stelle argumentieren, dass die Verbraucherin in der Wurst zwar ein weniger an Fleisch aber ein mehr an Inhalt und Geschmack für ihr Geld erhält.
Heute werden in Deutschland gemäß dem statistischen Bundesamt jedes Jahr etwa zwei Millionen Tonnen Wurst konsumiert. Das entspricht 10 Millionen Würsten am Tag. Würste sind ein Erfolg! Es ist sehr bedauerlich, dass sie dennoch nahezu unbeachtet bleiben. Würste gehören zu den Fleischprodukten, die wir unaufmerksam und quasi im Vorbeigehen essen.
Der Kampf und Indiviualität der Wurst
In Südafrika beispielsweise gibt es alljährlich einen öffentlichen Wettbewerb für die besten Wurst („Championship Boerewors“). Der Wettbewerb steht jedem offen und findet mit über 1.000 Einsendungen große Begeisterung in der Bevölkerung. In Deutschland, dem historisch größten Wurstland der Welt, gibt es in kaum einer Privatküche einen Fleischwolf. Unsere Küchen sind vielmehr so gestaltet, dass man gar nicht mehr merkt, in einer zu stehen. Ein anderes Problem ist, dass unsere Würste immer einseitiger werden. Aufgrund der modernen Herstellungsverfahren eigenen sie sich hervorragend zum Industrieprodukt. Regionale Unterschiede in der Würzung gleichen sich einem durchschnittlichen Geschmack an. Das Handwerk verliert damit an Erkennbarkeit.
Wurstkultur – ein Kulturerbe?
Dieser Artikel soll ein Anstoß sein zu einem kurzweiligen Nachdenken über Würste. Ich möchte über Gewürze und andere Inhaltsstoffe sprechen, über die Arten der Herstellung, die notwendigen Maschinen präsentieren, einmal eine Wurst durchkalkulieren und fragen, warum Würste beim Grillen immer der Länge nach platzen und nie quer. Würste sind eine großartige Erfindung! Schon der römische Kaiser Claudius (10 BCE bis 54 CE) ist mit dem Ausruf überliefert „Ich bitte Euch, wer kann denn ohne ein Stück Wurst leben?“1. Schon deshalb bin ich der Meinung, dass die Wursttradition in Deutschland zum UNESCO Weltkulturerbe gezählt werden sollte. Genauso wie es unsere Brotkultur seit dem Jahr 2014 bereits ist. Warum ist das nicht längst geschehen?
1 „… exclamavit in curia: ‘Rogo vos, quis potest sine offula vivere?’“ (dt: „… rief er in der Kurie aus: ‚Ich bitte euch, wer kann denn ohne ein Stück Wurst leben?’“), Sueton (“De Vita Caesarum“, Divus Claudius, 40.1)
Über den Autor: Thomas Winnacker
Thomas Winnacker ist Metzgermeister und Unternehmensberater. Er erhielt seine Ausbildung bei den Herrmannsdorfer Landwerkstätten und arbeitete anschliessend bei der Öko-Metzgerei Landfrau.
Seit seiner Ausbildung in Herrmannsdorf interessierte sich Thomas für das Schlachten. Während der Meisterschule konnte er auch intensive Einblicke in die Arbeit eines Großschlachthofs gewinnen. Seit 2017 gehörte er zum neuen Führungsteam des Schlachthofs in Fürstenfeldbruck. Als Betriebsleiter hat er maßgeblich dazu beigetragen, diesen wertvollen regionalen Schlachthof wieder zu eröffnen.
Für Fleischglück.de möchte Thomas die Vorgänge rund um das Schlachten transparent machen. Er sagt: „Fleisch ist das wertvollste Produkt der Welt. Für jeden Bissen ist ein Tier gestorben! Das dürfen wir nicht verstecken. Wir müssen über das Töten reden.“
Servusla Thomas, toller Artikel wünsch dir alles Gute gruß Herbert. Wie schon mal gesagt wäre für eine Durchführung einer traditionellen Hausschlachtung bereit.